Wenn es um zeitgenössische Kunst geht, dann ist es diese neue, einzigartige Erfahrung, die das Individuum mit dem Kunstwerk und seinem Wirkungsraum verbindet, die im Zentrum dieser documenta stehen soll.“Eine Erfahrung” habe ich schon auf einigen documenten in Kassel gemacht, als Performerin für Tanja Bruguera, beim Zahlenlesen und in der Arbeit für die Künstlergruppe AndAndAnd, für die ich das Stadtgartenprojekt Huttenplatz mitinitiiert habe und die mein Performanceprojekt Lumpenball auf der documenta(13) einbezogen. Schon mindestens ein Jahr vor einer neuen documenta bin ichelektrisiert. 100 Tage Weltmusik und internationale Kunstszene verändern unsere kleine Stadt, die sonst eher engstirnigt daherkommt. Ich lege mein Ohr an den Puls dieses Kunstwellen, die unvorhersehbar Neues in meine Nähe bringen und mein Kunstschaffen immer beeinflussen.Prozesszentrierte Begegnungen mit Kunstwerken und Menschen sind mir aus meinen Kunstseminaren vertraut. Dass diese jetzt einen Schwerpunkt im Vermittlungsprogramm der documenta 14 spielen sollen, begeistert mich, weil ich schon erlebe, dass Situationen in unterschiedlicher Weise emotional, geistig oder energetisch aufgeladen sein können. Die Neurowissenschaft zeigt, dass Aufmerksamkeit dadurch generiert wird, dass etwas den Erregungslevel im Körper steigen lässt. Unwillkürlich setzt ein äußerer Eindruck Intensität in uns frei, wir fühlen uns plötzlich ganz intensiv verbunden, und ev. vergessen wir diese Erfahrung auch nicht mehr, sondern erinnern uns viel später noch an ihre uns veränderndeWirkung, die immer auch eine Körpererfahrung ist. Denn der Körper ist unser Instrument, mit dem wir Erfahrungen machen, in dem wir auch unseren Sicherheitsanker finden, wenn uns etwas stört. Den Erregungslevel steigern kann man auch bewusst durch Atemübungen. Wenn wir uns vor ein Bild oder eine Skulptur stellen und uns vorstellen, dass wir sie einatmen und unsere eigenen Seinszustand zum Kunstgegenstand hin ausatmen, entsteht ein intensiverBeziehungsraum, der tiefe Erfahrungen ermöglicht. Ich habe mit GruppenteilnehmerInnen solche Begegnungen initiiert und geteilt, die uns nachhaltige und ungewöhnliche Erlebnisse schenkten. Unser Bewusstsein ist mehrdimensional und damit veränderungsbereit. Revolutionär ist es, wenn wir nicht das Denken über ein Kunstwerk an die erste Stelle setzen, z. B. der Name von KünstlerIn und Werk, bzw. ein Text dazu lesen, sondern uns zunächst dem Erlebnis aussetzen, beobachten, was mit uns passiert, was sich innerlich regt. Und dann istda ja noch der Austausch mit denen, die gerade Mitanwesende sind, die Frage, wieviel Recherche und persönliche Begegnungen brauche ich dann, was kommt von Außen noch dazu? Wieviele Öffentlichkeiten wähle ich? Wohin mit der sich aus der Begegnung ergebenden Aktivierung? Wie geht Reflexion? Wie Kollektivität und Partizipation? Sollten Kunstpäsentationen immer zu kulturellen, gesellschaftlichen oder politischen Wirklichkeiten Stellung nehmen? Und kann eine documenta wirklich gesellschaftliche Veränderungen anstoßen, wie dies in der Antike das griechische Theater geleistet hat? Oder ist dieser Anspruch angesichts von festgefahrenen Machtstrukturen doch zu hoch?http://www.documenta14.de/de/public-education/
Author: Regula Rickert